Letztens saß ich an einem wunderschönen Tag in meinem Auto, ich war gerade am Weg zur Post und hörte laut Musik. Fenster offen, Sonnenbrille auf, warmer Sommerwind, Indie-Pop auf FM4. Gut gelaunt verfolgte ich die Sendungsbeiträge, bis eine rauchige, tiefe Frauenstimme einen “Gedankenmonolog” zum Thema “Tussis” vorlas: “Liebe Tussis, ich danke euch – dass ihr mir den Mut gebt, meine Weiblichkeit auszuleben, dass ihr keine Angst davor habt, was die Leute denken, dass ihr eure Weiblichkeit zelebriert und auch mir die Möglichkeit gebt, furchtlos das anzuziehen und zu sagen, was ich möchte….”.
Der Monolog dauerte in etwa 2 Minuten und setzte sich in diesem Schema fort. Während ich es anfangs für eine gute Botschaft hielt, “Tussis” auch mal positive Eigenschaften zuzuschreiben, wurde ich zunehmend unruhig – denn wer war denn überhaupt gemeint mit “Tussis”? Etwa ich? Weil ich modebewusst bin, mich gern schminke, mit Prosecco anstoße und dabei “Cheers” sage? Wieso muss man Menschen überhaupt so ein Label aufdrücken – kann man denn diese Negativ-Assoziation nicht einfach mal weglassen?
Ist das deswegen in Ordnung, weil es eine Moderatorin von FM4 ist, die hier liest, weil sie alternativ ist, weil sie vermeintlich einen besseren Musikgeschmack hat, weil sie nicht “Mainstream” ist – steht sie deshalb über den Dingen? Und würde das typische “FM4 Publikum” es toll finden, sofort in eine Kategorie gesteckt zu werden – genau, wie ich es gerade mit der Aussage “FM4 Publikum”, denn wer ist das nämlich überhaupt, getan habe?
Einen Menschen aufgrund ein paar weniger Vorlieben: “sie liebt Mode, sie kichert, sie ist laut, sie hat rote Nägel, also ist sie eine Tussi” – oder eben so: “sie trägt Plugs, sie schminkt sich nicht, sie trägt Haremshosen, sie isst nur Bio, sie geht auf Goa Parties, also ist sie Alternativ” – zu be- und auch zu verurteilen, ihm Kategoriestempel aufzudrücken und ihm Eigenschaften zuzuordnen, ihn zu ganzen Gesellschaftsgruppierungen einzureihen, ist schlichtes Schwarz- und Weißdenken und versucht einen komplexen Menschen mit tausenden von Eigenschaften zu kategorisieren.
Aber ganz so einfach ist es eben nicht. Denn ich höre FM4 und Superfly, in meiner Freizeit gehe ich gern wandern, ich habe oft unlackierte Nägel weil es gesünder ist und schminke mich nie wenn ich bei meiner Familie oder in Kärnten bin. Ich tanze im Volksgarten zu Techno und R&B, ich rappe zu Tupac und ich mache mich für meine Freunde zum Affen. Ich schreibe gern Gedichte und bin manchmal unheimlich melancholisch, dann höre ich Lana Del Rey und trinke alleine Wein. Ich liebe es, auf Events eingeladen zu sein und mich hübsch zu machen, meine Freundinnen kennen mich aber meistens mit lockigen Haaren und ganz bequem in Shorts und Sneakers. Ich fotografiere gerne meine Outfits, aber wenn mich etwas stört oder ich etwas erheiternd finde, dann schreibe ich darüber – weil ich nämlich ein Gehirn habe, obwohl ich “Fashion Blogger” bin. Ich treibe nur hin und wieder Sport und liebe Fast Food, trotzdem versuche ich, mich überwiegend gesund zu ernähren. Die meiste Zeit fühle ich mich wohl in meinem Körper, aber manchmal kann ich mich nicht in den Spiegel schauen. Ich gebe gerne Geld für schöne Dinge aus und muss dann manchmal den Kopf über mich selbst schütteln. So bin ich, ich bin lustig und lebensfroh und wenn das bedeutet, eine “Tussi” zu sein, dann bin ich wohl gern eine.
Schade nur, dass die FM4 Moderatorin erst eine “Tussi” braucht, um sich zu trauen, auch mal eine andere Seite an sich selbst zu entdecken und auszuleben – offensichtlich hat sie sich schon selbst in eine Schublade gesteckt, die sie wohl so einfach nicht mehr aufbekommt.
COMMENTS
Alina
Ich finde du schreibst wirklich ganz toll und du regst mich damit immer wieder zum nachdenken an.
Vielen Dank dafür 🙂
Katharina
Kati, dieser Post ist der Hammer!!!
Etwas ähnliches denke ich auch oft… manchmal liebe ich es das Paillettentop und die High Heels rauszukramen und mit meinen Mädels in einer richtig chicen Bar anzustoßen, auf der anderen Seite freue ich mich im Herbst auf drei Wochen Urlaub im Camper ohne, dass ich mir groß Gedanken über mein Outfit, meine Haare, mein Make-up etc. machen zu müssen. Gleichzeitig gehören zu meinen Hobbies Reiten und Tanzen (also “typische” Mädelsdinge), was nicht bedeutet, dass ich beim Fußball (allerdings meist zu WM- und EM-Zeiten) nicht doch mal richtig schimpfen und fauchen kann. Und dann kommt die Frage: Passt das alles zusammen? Wer bist Du eigtl? Ist das nicht ein bisschen zu wischiwaschi?! – zu wenig geradlinig?! Dabei ist es doch großartig, dass wir heutzutage die Möglichkeit haben, alles mögliche auszuprobieren und uns jeden Tag neu zu erfinden. Das Schubladendenken schränkt dabei nur ein. 🙂
Kerstin
Toller und gut geschriebener Beitrag Kathi 🙂
Mach weiter so …
Elisabeth
Liebe Kathi, du bringst es auf den Punkt. Dieses ständige “Schubladen-Denken” ist sowas von nervig… Lg Elisabeth
kamila
super geschrieben!
das problem kenne ich nur zu gut!
nur weil ich ein mode beruf habe, mich für mode interessiere heißt es doch nicht, dass ich auch nicht anders kann..
wie oft kommt es vor, dass ich auf einer party stehe und plötzlich über eine folge von monty python erzähle und alle schauen mich an und sagen ..was du, ich dachte du interessierst dich nur für prada!
NEIN ..obwohl ich einen roten Nagel lack trage, habe ich auch was im Kopf. Das eine schließt das andere nicht aus..
Vanessa
Richtig toller Beitrag! Schön sowas persönliches zu lesen!
Jenny
Ein ganz toller Post!!
Du glaubst gar nicht wie oft ich mir Bemerkungen auf der Arbeit anhören muss…nur weil die meisten kein Interesse an Mode, Schminke, Nagellack und schönen Klamotten haben.
Die Spannweite ist unwahrscheinlich groß und reicht von “Oh Sie haben ja heute roten Nagellack drauf, haben Sie in der Mittagspause ein Date?” NEIN!! Es hat zu meinem Outfit gepasst und ich hatte Lust dazu. Punkt. Das ist der einzige Grund!
“Wow, heute sind das aber wieder hohe Schuhe. Wie können Sie darin laufen, wie können Sie sich sowas antun…” Bla, bla, bla! ich “tue mir das an” weil die Schuhe mir gefallen, ich liebe hohe Schuhe! Punkt. Das ist der einzige Grund! Ich möchte gar nicht wissen, wie viele von Ihnen ebenfalls denken ich wäre eine Tussi, aber es ist mir egal…und ihnen sollte es auch egal sein, so lange wie ich meinen Job gut mache!
Danke für diesen Post!!
Nadja
Liebe Kathi,
ich liebe deinen Schreibstil. Würdest du ein Magagzin raus bringen – ich würde es sofort abonnieren!
Wieder mal auf den Punkt gebracht und meinen Tag versüßt.
Mach weiter so!
Liebe Grüße
Claude
Oh ich liebe wie du schreibst!
Es ist so einfach uns Mädels oder auch uns Bloggerinnen in ein oder die andere Schublade zu stecken aber die Leute vergessen so oft dass es noch andere Seiten an einem gibt, Seiten die man vielleicht nicht immer ganz so oft präsentiert. Letztens hab ich meinem Vater auf dem Feld geholfen Teepflanzen (kleine Melissensetzlinge) zu setzen, 5000 Stück, mit einer alten Maschine wie früher. Du müsstest mal gesehen haben wie die Leute auf mein Foto reagiert haben, als ich mal nicht top gestylt aber mit Arbeitsklamotten da auf dem Feld stand 😉 Da hab ich wohl viele die mich nur so vom sehen kennen überrascht und ich fands so witzig 🙂
x Claude
Corinna
Das mit dem “Schubladen-stecken” ist leider eine Eigenschaft, die wir quasi fast alle haben, oder die uns angeboren wurde? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall versuche ich immer, trotz des ersten Eindrucks den man von einem Menschen hat, nicht gleich große Schlüsse zu ziehen ( auch wenn vielleicht ein gewisses Bild im Kopf schon entstanden ist ).
Ich persönlich würde dich eher als “Fashionista” bezeichnen 🙂 “Tussi” ist irgendwie aus der Mode gekommen und hat so einen “negativen” Beigeschmack.
Also Fashionista sein ist cool liebe Kathi 🙂 Danke für diesen super Beitrag ( ich muss ja immer laut lachen wenn jemand “Tussi” zu mir sagt :’-D )
Sarah
Ganz, ganz toller Post! Mich nervt dieses Schubladendenken auch immer sehr. Für viele Menschen ist man als Modebloggerin automatisch eine Tussi, weil man sich natürlich 24 Stunden nuuuur mit Mode und dem eigenen Aussehen beschäftigt. Dass das aber vielleicht nur eine Facette ist, über die man nunmal auf dem Modeblog schreibt, und anderen Facetten wiederum privat halten möchte, darauf kommen viele nicht.
Pinkpetzie
Ich danke dir für diesen tollen Beitrag, den ich wahnsinnig gerne gelesen habe. Und die ganzen begeisterten Kommentare sind nicht nur absolut verdient, sondern haben mir gezeigt, wie viele doch eben keine Tussis sind, auch wenn es auf den 1. Blick anders aussieht.
Ich habe eine bekloppte Schminksammlung mit reichlich roten Nagellacken und reite und trotzdem freue ich mich wahnsinnig gleich ins Stadion zu fahren und beim Fußballgucken sämtlichen Emotionen freien Lauf zu lassen. Und als wäre das noch nicht genug, werde ich mich so richtig dreckig machen und mein Gemüdebeet im Schrebergarten umgehen. Schubladendenken war wahrscheinlich noch nie richtig, aber es wird zunehmend schwerer überhaupt Schubladen zu finden.
Liebe Grüße
Karina
Sehr schön geschrieben. Ich bin bei diesem Thema genau Deiner Meinung!
lizza
Was “Tussis” und “Alternative” auf jeden Fall gemeinsam haben: Im Grunde sehen sie alle sehr ähnlich aus (bezüglich Styling), aber sie denken alle, dass sie furchtbar individuell sind. Und 9 von 10 würden sagen, dass sie “ein bisschen verrückt” sind.
Babsi Sonnenschein
herrlicher Schreibstil und wahre Worte! 🙂
svetlana
Ein richtig toller Text der genau das zeigt, was ich mir oft denke!
Ich finde, man wird viel zu oft aufgrund ein paar Apskete in eine Schublade gesteckt. NUr weil man Fashionblogger ist, heißt das nicht, dass man sich nicht für Poltik interessieren kann. Nur weil man ein Physikstudent ist, heißt das nicht, dass man sich nciht für Mode interessiert 🙂
Ich finde genau das schön, wenn Menschen verschiedene Apskete haben und verschiedene Interessen. Wären wir alle gleich, wäre das doch fad.
Und wenn Tussis Menschen sind, die sich neben anderen Dingen AUCH für MOde interessieren bin cih gerne ein und gebe der FM4Moderatorin gerne Mut 🙂
Liebst
Svetlana
Caroline
Super Text!! Sollten wirklich mal ein paar Menschen mehr lesen!
Deine Seite ist echt toll : )
Alles Liebe!
Vanessa
Dein Blog ist wirklich einer meiner Lieblings Blogs! Ich mag The Daily Dose sehr gerne, aber hier sieht man viel mehr den Mensch hinter dem Blog. Du versuchst nicht, dem Leser das perfekte glamouröse Blogger Leben zu zeigen, wie viele andere Blogger. Super super toll! 🙂
michischaaf
Grundsätzlich gebe ich dir vollkommen recht, man sollte Menschen aufgrund einiger Eigenschaften nicht in Schubladen stecken und sie entsprechend behandeln. Aber wer sagt, dass all die Eigenschaften, die üblicherweise eine Tussi beschreiben negativ behaftet sein müssen? Zu kichern, sich die Nägel zu lackieren, immer hübsch angezogen sein und Wert auf sein Äußeres, sprich Tussi zu sein, kann man sehr wohl auch wenn man was im Köfpchen hat und sich durchaus auch mit tiefsinnigen Themen beschäftigen kann.
Marlene K.
Du schreibst gut finde ich und verfolge deshlab ab und zu deinen Blog recht gerne.
Ich versteh’s deismal nur nicht ganz… du findest es auf der einen Seite blöd, Leute in Schubladen zu stecken, auf der anderen Seite steckst du dich selbst in eine Tussi-Schublade? Gab’s in dem Monolog eine Beschreibung, mit der du dich identifiezieren konntest?
Für mich zumindest, ist eine Tussi etwas arrogant und überheblich, modebesusst hin oder her, muss nicht sein. Gibt auch “Hippster-Tussis”, die weit weg von “modisch” sind…
Ach, ich habe leider Probleme mich schriftlich gut auszudrücken, der Punkt war einfach nur, ich fand’s schade, dass du dich so angesprochen, wenn nicht sogar “angegeriffen” gefühlt (versteh mich nicht falsch, muss nicht sein, aber es kommt in dem Text ein wenig so rüber) hast davon.
Lily
Wunderbar ehrlich und direkt!
Ich denk mir das so: je mehr Leute sich gegen Kategorien denken entscheiden desto populärer wird das wieder. Aber wohl alles auch nicht so einfach, hm..
Lily
POST A COMMENT